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Familiengeschichten

Erzählenswerte Ereignisse und Gewohnheiten

Vorfahren und heute lebende Verwandte berichten über erzählenswerte Ereignisse und Gewohnheiten.

1815 1826 1839 1842 1843 1867 1868 1871 1874
1943 1944 1944. 1946 1946. 1948 1940er 1950 1950er 1950.er 1951 1960 1960er 1962 1963 1964 1967 1967. 1969 1971 1972 1979 1980 1980er 1982 1985 1991

August Grenzdörffer
(Quelle: Seine Biographie)

Ungefähr 1815: Mit seiner Schwester saß er
„in den Winterabenden um den warmen Ofen herum, und Vater mußte dann Geschichtchen erzählen. – Die Mutter spann dabei und gab zuweilen eine Tasse Kaffee zum Besten. Auch wurden von derselben wohl Linsen oder Bohnen gebracht, welche die Kinder reinigen mußten von allerlei darunter befindlichem Unrath; auch gab es Federn zu reißen. Wollte man gern vom Nachbar einen Besuch haben, so durfte man nur an die Stubenwand pochen, der Nachbar erwiderte es und kam dann nebst Frau und Kind herüber, und unter traulichen Gesprächen wurden die Abendstunden verlebt.“

Ungefähr 1815 bis 1820:
„Den ganzen Sommer hindurch lief er barfuß, und nur an Sonn= oder Festtagen wurden Strümpfe und Schuhe angezogen. Dabei trug er eine lederne Hose, ein Tuchjäckchen und keine Kopfbedeckung; erst in seinem zwölften Jahre bekam er eine Mütze und das erste Paar Stiefeln, und er dünkte sich ein König geworden zu sein. Den ersten Rock (= Herrenrock als Oberbekleidung, eine Art nach unten verlängertes Sakko mit Taille) bekam er erst zu seiner Confirmation in seinem 14. Jahre.“

Er ließ sich ab 1826 in einem dreijährigen Seminar zum Lehrer an einer Elementarschule ausbilden. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Schulen Einrichtungen der Kirche. Danach wurden in Preußen die Schulen vom Staat übernommen, finanziert und organisiert, aber immer noch hatte die Kirche Einfluss auf christliche Inhalte des Unterrichts und blieb der Pastor der Vorgesetzte des Lehrers. Seine Abschlussprüfung bestand aus folgenden Fächern:
„Religionsunterricht, Bibelkunde, Geschichte, Erdbeschreibung, Naturkunde, Kopfrechnen, Tafelrechnen, Raumlehre, Deutsche Sprache, theoretisch und praktisch, Schulkunde, Lehrfertigkeit, Lesen, Schönschreiben, Zeichnen, Generalbaß, Orgelspiel, Gesang, Violinspiel.“

1839.  Seine Einkünfte als Lehrer setzten sich zusammen aus einem Grundgehalt der Regierung und Beiträgen aus der Gemeinde. Im Jahr erhielt er:
 Beiträge von den Dorfbewohnern:
„1. Das Dorf zählt circa 108 Wohnhäuser mit fast 800 Einwohnern, 44 Häuser davon haben jährlich 26 Scheffel Roggen als Zinsgetreide an die Schule abzugeben.
2. Zum grünen Donnerstage ist von jeder Person, welche confirmirt ist, also ein Alter über 14 Jahr hat, 1 Ei zu fordern.
3. Ein jedes Haus hat jährlich 1 Brot und 1 Wurst an die Schule zu entrichten.
4. Von jedem Schulknaben ist zu Michaelis 1 Mandel Forstwellen (= Holzbündel) oder dafür 10 Silbergroschen oder 8 Schütten Stroh zur Schulstubenheizung zu fordern.
5. Von jedem Schulmädchen ist vierteljährlich 2 ½ Sgr. Schulgeld zu erheben.
6. Von jedem Schulkind der 1. Classe ist jährlich, Ostern und Michaelis je zur Hälfte, 1 Sgr. und 3 Pfennige Tintegeld zu fordern. Von jedem Kind 2. Classe, welches auf Papier schreibt, also Tinte braucht, halb so viel.“

 Einkünfte von der Kirchengemeinde:
„Kleine Besoldung sowie Geld für Fertigung der Kirchenrechnungen, für Reinigung der Altartücher, für Glockenschmiere, für Erhaltung der Kirchenlaternen, als Entschädigung für den Neujahrssingumgang.“
 Einkünfte für Mitwirkung als Cantor
„bei kirchlichen Accidenzien (= nicht-planbaren Ereignissen): Trauung, Begräbnis (gesondert berechnet die Anfertigung des Lebenslaufs), Taufe.“
 Einkünfte von der kommunalen Gemeinde:
„Tranksteuerbeneficium.“
 Einkünfte von Kleinbauern:
„Pachtgelder der Schuläcker.“

Eine Ferienreise 1839.
„Sonntag, den 11. August 1839 reiste ich mit dem Schneidermeister B. und dem pensionierten Gensdarm S. mittags 1 Uhr von Eisleben ab. Unser Weg führte uns zunächst über Polleben, Helmsdorf, Gerbstedt, bis wir Abends in Belleben gegen 7 Uhr eintrafen. Hier fanden wir bei dem lieben Glaubensbruder Schneidermeister H. ein hübsches Nachtquartier.
(Nach Googleroutenplaner Fußmarsch von 22 km)
Montag, den 12. Aug. traten wir 3 Eislebener und der Missionar K. unsre Reise nach Gnadau an. … Unser Weg führte uns über Alsleben, Plötzkau, Gröna (wo wir über die Saale fuhren), Bernburg (wo wir das schöne Schloß und eine große Zuckersiederei besahen) und Nienburg. Hier ließen wir uns die Schiffbrücke zeigen, welche über die Saale führt. … Sodann wanderten wir fort nach Calbe, Döben und Gnadau. Es war Abends ½ 7 Uhr, als wir in den Gasthof einmarschirten.“
(46 km)

Bei der evangelischen Herrnhuter Brüdergemeine in Gnadau fühlte August sich sehr wohl, die „Gottesdienste gefielen mir außerordentlich“, und dazu bemerkt er:
„Viele Freude machte mir hier die Schnellschreibe=Copirmaschine. Ein Bruder saß am Tisch und copirte einen Brief. Mit ihm schrieben zugleich ein Dutzend Federn dasselbe nach. Tauchte er die Federn in die Tinte, so tauchten alle zugleich mit besondern Tintengefäßen etc.“
Zwei Tage später:
„Am andern Morgen früh 6 Uhr reisten wir aus dem uns so lieb gewordenen Gnadau wieder ab nach Schönebeck, besahen uns dasselbe ein wenig und setzten uns dann um 8 Uhr in den Dampfwagen (= mit Dampfkraft getriebener Wagen) und fuhren in ¼ Stunde nach Magdeburg, welches 3 Postmeilen von Schönebeck entfernt liegt. … Um 1 Uhr Mittags verließen wir die Stadt, gingen durch die ½ Stunde lange und schöne Vorstadt Sudenburg, welche sehr viele große und schöne Fabrikgebäude zählt, und marschirten auf Kleinoschersleben, Großoschersleben, Langenweddingen, Egeln und Schneidlingen zu, wo wir übernachteten.“
(34 km)
„Donnerstag, den 15. Aug. fuhren wir mit einer leeren Postkutsche als stumme Passagiere nach Winningen und Aschersleben, machten in dieser Stadt einen kleinen Rundgang, speisten bei einem Bekannten und stiefelten dann nach Quenstedt, um einem alten Freund aus Eisleben … einen Besuch abzustatten, und reisten dann vor Walbeck vorüber nach Meisberg, Vorwerk Rödchen, Leimbach, Mansfeld …, Benndorf und Eisleben zurück. Es war 11 Uhr Abends, als ich hier ankam.“
(Von Aschersleben bis Eisleben 30 km)

26. Sept. 1842.
„Heute ziehe ich aus der Neustadt in das von der Gemeinde gemietete Schulhaus in der Kreuzgasse No. 2738.“
Die Hausnummern in Erfurt waren noch durch die Reihenfolge des Baus in der Stadt bestimmt.

Aus seinem Brief an den Pastor im Jahr 1843:
„Ew. Hochwürden zeige ich hierdurch ergebenst an, daß ich nebst meiner Familie am heutigen Tage aus der unirten Landeskirche scheide und wieder in die alt=evang.=luth. Kirche, in der ich getauft, im Christentum unterrichtet und erzogen worden bin und der ich bei meiner Confirmation im 14. Lebensjahr ewige Treue geschworen habe, eintrete. Die Ruhe meines Gewissens erfordert diesen Schritt. Er ist nicht aus oberflächlicher, sondern aus reiflicher und wohlerwogener Ueberlegung gethan und aus vielfachen traurigen Erfahrungen hervorgegangen.“
In Preußen hatte der König im Jahr 1817 die Vereinigung – Union – von lutherischen und reformierten Gemeinden verordnet. In beiden Glaubensrichtungen hatte sich der Glaube mit Gedanken der Aufklärung vermischt. Einige Pastoren und Gemeinden entwickelten deswegen Widerstand gegen die Union, gründeten eigene Gemeinden, 1836 auch in Erfurt. Deren Gottesdienste und andere kirchlichen Handlungen wurden verboten und bestraft, zum Teil mit Gefängnis. Die Verfolgung der Lutheraner endete 1840, Aktivitäten dieser – später alt-lutherisch genannten – Kirche wurden geduldet und 1845 endgültig genehmigt.
Auch in Erfurt durfte die Gemeinde, inzwischen auf ca. 300 Mitglieder angewachsen, sich nun in der Öffentlichkeit zeigen. Sie erhielt das Recht zum Betreiben einer eigenen Schule. August wurde ihr erster Lehrer. Die alt-lutherische Kirche mit allen Gemeinden firmiert heute unter dem Namen »SELK – Selbstständig Evangelisch-Lutherische Kirche«.

6. Aug. 1843.
„Die tausendjährige Selbstständigkeit Deutschlands (Vertrag zu Verdun d. 11. Aug. 843) wurde heute allhier gefeiert. Früh 5 Uhr zog die Militärmusik mit klingendem Spiel (2 Stäbe) durch die Augustinerstraße, Michaelisstr., Marktstr., Wilhelmsplatz, Kette bis vor die Wache neben der Regierung. Um 6 Uhr sang der Schützenverein am Rathause. Musik. Um 11 Uhr geschahen 36 Kanonenschüsse vom Petersberge mit doppelter Ladung.“

22. April 1867.
„2. Heiliger Ostertag. Heute Nachmittag habe ich ein Familienbild anfertigen lassen.“
Photographieren geschah im Atelier eines Photographen, denn im privaten Haushalt gab es damals noch keinen Photoapparat.

1868.  August lebt allein. Seine Frau ist vor fünfzehn Jahren kurz nach der Geburt des jüngsten Kindes gestorben, die Kinder sind selbstständig.
„Scizze meines häuslichen Lebens.
Meine tägliche Beschäftigung besteht in folgenden Stücken: Früh 5 Uhr wird aufgestanden. Alsdann mache ich sogleich mein Bett, fege Kammer und Stube aus, hole Waschwasser und kleide mich vollends an. Halte meine Morgenandacht und beschäftige mich mit Schularbeiten. Um 8 Uhr geht der Unterricht an und dauert bis 11 Uhr. ½ 12 Uhr kommt Marie Cramer und geht in die Suppen=Anstalt und holt mir eine Portion, welche 1 ¼ Sgr. kostet. Da habe ich jedesmal 3 tiefe Teller voll, entweder Reis oder Hirsen, Graupen, Bohnen, Erbsen, Nudeln, Linsen, Gries nebst 1/8 Pfund schönes fettes Schweinefleisch, oder Rindfleisch, ohne Knochen, wohl auch manchmal ¼ Pfund. Um 1 – 3 Uhr geht es wieder in die Schule. Sodann koche ich mir auf der Maschine den Kaffee, auf ½ Loth kommen 4 Tassen. Abends esse ich ein Butterbrot mit Käse und trinke entweder eine Tasse Kaffee oder ein Glas einfaches Bier dazu. Dann gehe ich ein Stündchen aus und spiele dann auf dem Pianoforte ein Liedchen, und gehe gegen 10 Uhr zu Bett. … Mittwochs und Sonnabends wird von Madame C. die Straße und Hof gekehrt. Dafür erhält sie monatlich 15 Sgr. – Meine Stube lasse ich alle hohe Festtage scheuern. Fenster putze ich selbst. Meine Küche und alle Zimmer sind in dem reinlichsten Zustande, und ich freue mich, wenn ich Alles selbst gemacht habe. Feuer kann ich im Ofen anmachen. Und so muß ich Euch sagen: Ich lebe jetzt wie ein König und freue mich in meinem lieben Gott. … Nach jeder Mahlzeit wasche ich sogleich die gebrauchten Teller und Schüsseln etc. auf, wozu ich zwei Gölten (= Behälter zum Wasserholen vom Brunnen) mit Wasser gefüllt in der Küche beständig stehen habe. Küchenhandtücher sind auch besorgt. Da wird Holz gespalten, Kohle geklopft und ein Liedchen dazu gesungen. Um 5 Uhr Morgens sind meine Fensterladen schon offen, wo meine Nachbarn noch im tiefen Schlafe liegen. Alle Stunden werden Sopha, Stühle und Tische mit einem reinen Abwischtuche vom Staube gereinigt. Seht, so geht Alles sehr gut. Nur so lange es Sommer ist – aber wenn der Winter kommt, wird es mich wohl manchmal schaudern in der großen Stube. Frau B. besorgt für mich die nöthigen Einkäufe und hat sämtliche Ausbesserungen an Wäsche und Strümpfe übernommen. Die Frau D. ist meine Waschfrau, welche für 1 Hemd 10 ? , für ein Vorhemdchen 6 ? und für einen Kragen 3 ? berechnet. Meine Stiefeln wichse ich allabendlich. So lebe ich denn als alter Junggesell ein flottes und fröhliches Leben.“

1871.  August hat in seinem Leben sehr, sehr viel geschrieben.
„Recept zur Bereitung einer guten schwarzen Tinte.
a) 6 Loth gute Galläpfel werden zu Pulver gestoßen. b) 2 Loth Blauholz. Auf a und b gießt man ½ Maaß Weinessig und läßt es in einem unglasirten Topfe in einer gelinden Wärme 24 Stunde stehen, schüttelt es aber während dieser Zeit oft um.
Dann gießt man c) ½ Maaß Flußwasser dazu und läßt es bei einer gelinden Wärme aufkochen. Dann setzt man d) 2 ½ Loth Vitriolum Martis und 1 ½ Loth Gummi arabicum, welches beides vorher im lauwarmen Wasser aufgelöst sein muß, hinzu, wenn man zuvor diese erste Aufkochung in einen andern neuglasirten Topf abgegossen hat, und kocht das Ganze noch einmal gelinde auf. Diese Tinte kann sogleich nach der Zubereitung gebraucht werden und fließt sogleich schwarz aus der Feder.“

1874.  Drei Rätsel in verschiedenen, damals bekannten Formen:
„Logograph
Ich bin ein Kleidungsstück bei Groß und Klein,
Bei Mann und Weib so ziemlich allgemein,
Mein Stoff ist Wolle, Seide oder Lein',
Oft füllt das eine noch das andre ein, Und mancher trägt im Wechsel alle Sorten. –
Ist meinem Wort der Kopf gespaltet worden,
So werd' ich zu Papier, doch groß ist meine Pracht
Im Spiel, ich herrsche, steche, siege in der Schlacht. –
Nun nehmt den ganzen Kopf hinweg. Was bleibt? o seht;
Ein Körper, dem zugleich auch jedes Glied abgeht. –
Verkürzt ihr mich noch an der andern Seite,
So werd' ich geistiger Natur, mich weide,
Wer nicht besondre Stärkung nöthig hat,
Mein Vater ist der Tugend Gaumenweide,
Sonst findet sein Genuß meist nur als Würze statt.“
(Auflösung:  Strumpf,  Trumpf,  Rumpf,  Rum)

„Palindrom
Wer in mir ruht, weiß nichts von Müh', Kehrst du mich um, nähr' ich das Vieh.“
(Auflösung:  Sarg,  Gras)

„Charade
Mein Ganzes macht drei Sylben kund,
Wer rechtlich denkt, kann mich nicht leiden.
Es ist die erste Sylb' ein Hund,
Ein Junge sind die letzten beiden.
Und alle Drei in einem Bund,
zu einem Schimpfwort eng verschlungen,
sind schlechter noch als Hundejungen.“
(Auflösung:  Spitzbube)

1874.
„In Sangerhausen habe ich den erbärmlichen Omnibus benutzt, der statt 8 Personen 14 eingeladen hat und noch 3 auf dem Kutschersitz unterbrachte.“
Das heute gebräuchliche Wort Bus ist abgeleitet von Omnibus. Dies ist ein lateinisches Wort und bedeutet „für alle“. So wurde damals der lange Kutschwagen mit Pferdegespann im Gegensatz zu der Kutsche für einige wenige genannt.

August 1874.   Christlicher Kommentar zum neuen Gesetz zur Einrichtung des Standesamtes, Abschrift aus einer Kirchenzeitung:
„Die Brautpaare müssen nach Vorschrift zunächst zum Civilbeamten gehen. Solche Beamte werden in jeder größeren Gemeinde ernannt werden. … Dagegen möchte die Regierung gern eine Auswahl der Geistlichen zu Civilstandsbeamten ernennen. Doch welcher gewissenhafte Pastor könnte wohl solches Amt annehmen, das ihn verpflichtet, Leute, die er nach Gottes Wort nicht trauen könnte, z. B. Ehebrecher, Geschiedene u.s.w., im Auftrage des Staates zu verbinden!! … Der Civilbeamte prüft die Brautleute, ob kein staatliches Hinderniß ihrer Ehe entgegensteht. Dann geschieht das Aufgebot durch 10tägiges Aushängen der Namen an dem bekannten Brette, wo alle polizeilichen Bekanntmachungen, als da sind Auktionen, Steckbriefe und dergl., angeheftet werden. Nach dem wird das Brautpaar zu einem Termin vorgeladen, muß etwa vor Zeugen ein Protokoll unterschreiben und wird dann von dem Beamten im Namen des Staates kraft des Gesetzes zusammengegeben. Damit ist die Sache fertig. … Diese sogenannte Civilehe erscheint zwar in der öffentlichen Meinung hinfort viel besser als das ungesetzliche Conkubinat, das man gewöhnlich „wilde Ehe“ nennt, aber eine christliche Ehe ist weder diese noch jene. … Es ist deßhalb die heiligste Pflicht aller ordentlichen ehrsamen Brautpaare, die noch irgend etwas auf christliche Ehre und Gottes Segen halten, daß sie ihr Aufgebot nicht blos auf dem Civilstandsamte, sondern auch zugleich bei ihrem Pfarrer bestellen, und wenn nach 10 Tagen die Civilverschreibung erfolgt ist, sogleich mit ihrer Bescheinigung zum Pastor gehen und sich kirchlich trauen und einsegnen lassen.“

Aus einem Brief eines Sohnes im Jahr 1874 über neue Pflicht zu Rohrleitungen im und am Haus:
„Du wunderst Dich über den Appartement=Bau. Ich wundere mich nun wieder darüber, daß Ihr nicht wißt, daß in Erfurt alle Gruben cementirt sein oder werden müssen, und aus oberen Stockwerken Röhrenleitung heruntergelegt, die Gruben gut verdeckt und aus denselben ein Ventilations=Rohr zum Dache hinaus leiten muß. Da doch diese Verordnung fast täglich unter Strafandrohungen in allen Blättern gestanden haben.“
Es handelt sich offensichtlich um eine Entlüftung der Fäkalgruben am Haus. Die Toilettenspülung mit Wasser kam allerdings erst zwei, drei Jahrzehnte später, nachdem in immer mehr Städten flächendeckend Wasserleitungen gelegt waren, die das Wasser in die Wohnungen brachten.


Klaus Grenzdörffer

Leibchen
In meiner Kindheit trug ich bis zum Winter 1943/1944 an bayerischen kalten Wintertagen Leibchen. Das waren Kleidungsstücke zwischen Unter- und Oberhemd, vorn zugeknöpft. Zu eisigen Zeiten schützten lange Strümpfe, getragen unter der kurzen Hose mit Hosenträgern und gehalten mit Strapsen an den Leibchen. Diese wärmende Kleidung half zwar auf dem zwei km langen Schulweg zum nächsten Dorf, aber zuletzt schämte ich mich wegen der langen Strümpfe.

Vom Griffel zum Füllfederhalter
In meinem ersten bayerischen Schuljahr ab Herbst 1943 habe ich mit einem Griffel auf eine Schiefertafel geschrieben. Ich konnte das Geschriebene mit einem nassen Lappen löschen, der wegen der Feuchtigkeit an einem Band außerhalb des Ranzens baumelte. Dann schrieb ich mit dem Bleistift in das Heft. In der 3. und 4. Klasse der Kieler Volksschule nutzte ich auch Federhalter, die ich in mein Tintenglas tauchte, das seinen Platz in dem Fach unter der Schreibfläche hatte. Ein paar Jahre danach breitete sich unter uns Schülern schnell der Füllfederhalter aus, gern angenommen als ein Geburtstagsgeschenk.

Vaterlos
Mein Vater ist 1944 als Soldat an der Ostfront gestorben. Unsere Mutter musste zusehen, wie sie mit uns vier Kindern allein zurecht kam. In der Schule merkte ich, dass wir Kinder nicht die einzigen waren, die ohne Vater aufwuchsen. Erst später, als ich selbst Vater wurde, habe ich gespürt, was mir in meiner Kindheit und Jugend entgangen ist und welche riesige Last unsere Mutter zu tragen hatte.

Klingel an Wohnungstür
Unsere Mutter wohnte mit uns vier Kindern seit 1946 in einem vierstöckigen Miethaus. Besucher kamen an unsere Wohnungstür und klingelten durch Drehen eines kleinen Knopfes. Nachts war das nicht möglich, weil die Haustür abends um zehn abgeschlossen wurde. Unsere Tante, die mit ihrer Familie in demselben Haus wohnte, nutzte bei ihren Besuchen zwar die Klingel, klapperte aber dann zusätzlich mit der metallenen Klappe des Briefschlitzes, so dass wir wussten, dass kein Fremder vor der Tür stand.

Hochseilakt
In Kiel spannten in der Nachkriegszeit, vielleicht 1948, Seilkünstler ein Drahtseil vom Rathausturm über einen kleinen See zum Gebäude der Sparkasse und gingen auf ihm vorsichtig Schritt für Schritt mit einer Balancierstange. Wir Zuschauer staunten über den Mut der Männer dort oben etwa 15 m über uns, die sogar einmal mit einem Motorrad mit befestigtem Gewicht darunter auf dem Seil fuhren. Andere Männer sammelten mit einer Büchse Geld, ich steckte einen Groschen hinein, die Erwachsenen wohl etwas mehr.

Stille Post und Schwefelhölzchen
In meiner Kindheit haben wir nach dem Krieg bis Ende der 1940er Jahre mit Oma und Opa sowie mit einem Vetter Spiele im Kreis gespielt: Teekessel, Armer schwarzer Kater, Ich sehe was was du nicht siehst, Stille Post, Ich packe meinen Koffer, Alle Vögel fliegen hoch, Reise nach Jerusalem. Gelesen habe ich Märchen der Gebrüder Grimm und von Hans Christian Andersen. Mehrere sind mir bis heute in Erinnerung, zum Beispiel das sehr traurige Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ und das erbauliche „Des Kaiser neue Kleider“. Interessant fand ich das Buch „Emil und die Detektive“

Lange Weile
Unsere Familie machte bis gegen 1950 mit Oma und Opa in Kiel lange Spaziergänge von unserer Wohnung durch Tannenberg zum Nordostseekanal. Langweilig! Am Ziel gab es Saft oder Muckefuck-Kaffee. Doch dann aus bestimmtem Blickwinkel erschien uns eine Sensation: Ein Schiff schien durch die Landschaft zu schwimmen. Tatsächlich waren es die Aufbauten und Masten eines Schiffes, die hinter dem Wall am Rand des Kanals zum Vorschein kamen.

Müllmänner und Kohlenmänner
In der Heizperiode musste aus dem Kachelofen jeden Morgen die Asche entfernt werden. Wir brachten sie in den Hinterhof zur Mülltonne. Von dort schleppten bis etwa 1950 die Müllmänner die schweren eisernen Mülltonnen auf dem Rücken im Haus ein paar Stufen nach oben, durch den langen Hausflur bis zur Straße zum Müllwagen mit offener Ladefläche. – Zum Anzünden des Feuers mussten wir für Papier und fein gespaltenes Holz sorgen. Kohlen bekamen wir vom Kohlenhändler geliefert. Die Kohlenmänner schleppten die Zentnersäcke durchs Haus die Kellertreppe hinunter durch enge Kellergänge. Sie kamen mit Lastwagen, gezogen von zwei Pferden. Wenn von ihnen Pferdeäpfel auf der Straße liegen blieben, haben Anwohner die gern in Eimer geschaufelt, um sie als Dung für ihren Schrebergarten zu verwenden.

Pubertäre Sprüche
Im frühjugendlichen Alter um 1950 kannten wir den Spruch: „Bescheidenheit, Bescheidenheit, verlass mich nie bei Tische, und gib, dass ich zur rechten Zeit, das größte Stück erwische.“ Wenn jemand mit seinem Wissen prahlte, nickten mein Bruder und ich scheinbar interessiert mit dem Kopf und warfen unseren Standardspruch ein: „Ja, und Kolumbus hat 1492 Amerika entdeckt.“ Übrigens: Später wurde mir bewusst, welcher europäische Hochmut gegenüber den damaligen Menschen auf dem fremden Kontinent hinter diesem „Entdecken“ steht.

Der Straßenbahnschaffner
Nach unserer Rückkehr nach Kiel sahen wir die Straßenbahn direkt an unserem Haus vorbeifahren. Wir nutzten sie nur selten. Der Schaffner hatte um den Hals eine Tasche mit Metallröhrchen nebeneinander gehängt, in die er die Münzen für den Fahrpreis von oben hineinsteckte und Wechselgeld durch Anklicken unten herausholte. Wenn an einer Station die Fahrgäste aus- bzw. eingestiegen waren, zog er an einem Band, das im Wagen von vorn bis hinten über ihm hing, und löste dadurch einen Klingelton aus, für den Fahrer das Signal zur Abfahrt. Noch bis Anfang der 1950er Jahre hatte er draußen hinter dem Wagen zu tun, wenn nämlich die Rolle des Strombügels aus der Oberleitung herausgesprungen war und er den Bügel an einem dünnen Seil wieder zu der Oberleitung hinbalancierte. Danach wurde die Rolle durch einen Querbügel ersetzt. Meine Oma nannte die Bahn „die Elektrische“. Die Bezeichnung kannte sie aus ihrer Jugendzeit in Erfurt, als die Wagen auf Schienen, die vorher von Pferden gezogen worden waren, einen elektrischen Antrieb erhalten hatten.

Robinson und Neemaschine
Gelesen habe ich in meiner Jugendzeit ab 1950 die Bücher „Gullivers Reisen“, „Sigismund Rüstig“, „Robinson Crusoe“, „Till Eulenspiegel“ und „Klassische Sagen des Altertums“. Dazu Wildwestromane von Billy Jenkins und Tom Prox. Von den damals beliebten Büchern von Karl May, zum Beispiel den Winnetou-Bänden, habe ich nur einige Kapitel gelesen; ich hatte nicht die Geduld für die kleinen, aber dicken Bücher. Spaß hatte ich an den Spielen mit Papier und Stift: Stadt Land Fluss, Wörter bilden mit Buchstaben aus einem verabredeten langen Wort, Schiffe versenken. Und an Ratespielen wie Neemaschine (Ein Kind nicht im Zimmer, die anderen bestimmen einen Gegenstand, den das draußen wartende Kind raten soll, das kommt herein und wird gefragt, ob es dieser oder jener Gegenstand sei, es antwortet ein Vertrauter des Ratenden mit „nein“, schließlich antwortet er mit „nee“, das ist für den Ratenden das Zeichen dafür, dass der nächste gefragte Gegenstand der richtige ist).

Zuber und Mangel
Unsere Mutter hat noch bis Mitte der 1950er Jahre einzelne Kleidungsstücke am Waschbrett über einem Zuber gereinigt. Die Kochwäsche konnte sie an dafür bestimmten Tagen in einem beheizbaren Kessel in der Waschküche im Keller waschen. Zum Trocknen brachten wir sie in dem Miethaus auf den Trockenboden. Bettwäsche wurde anschließend gemangelt, mit einem Gerät, in dem die Wäsche zwischen zwei Holzrollen gepresst wurde, die eines von uns Kindern mit einem Rad an der Seite drehte.

Beliebte Verkehrspolizei
Am Kieler Dreiecksplatz regelte bis Mitte der 1950er die Polizei den Verkehr zu Stoßzeiten. Mit hoch-Heben oder zur-Seite-Strecken der Arme wurde dem Fahrer der Straßenbahn, dem Autofahrer oder mir als Fahrradfahrer Halt oder Weiterfahrt signalisiert. Einer der Polizisten war anscheinend besonders beliebt. Jedes Jahr zu Silvester hielten Autofahrer kurz bei ihm und überreichten ihm Geschenke. Dann wurde eine Ampel eingebaut.

Vom Stopfpilz zum Abitur
Meine ältere Schwester hatte einen Stopfpilz mit der Aufschrift: „Wenn dich die bösen Buben locken, bleib zu Haus und stopfe Socken“. Doch ab Mitte der 1950er Jahren wurde Bildung groß geschrieben, Mädchen sollten nicht mehr im Nähkurs hängen bleiben, sondern in Schule und Lehrzeit genauso gefördert werden wie die Jungen. Immer mehr Schülerinnen und Schüler erhielten einen Unterricht über die Hauptschule hinaus, begründet mit Chancengleichheit. Noch wichtiger aber war die Begründung einer gut gebildeten Jugend für berufliche Tätigkeit, so dass ein wirtschaftliches Wachstum möglich wurde. Das drückte sich zum Beispiel in der Änderung der Mittelschule in Realschule aus, in Einführung von Englisch als Pflichtfach.

Zuse Z22
Sie dröhnte bisweilen, meistens summte sie gleichmäßig vor sich hin. Sie brauchte morgens nach dem Anschalten eine halbe Stunde, um in die Gänge zu kommen. Sie verstand die Sprache ALGOL. Wenn ich, ab 1962, ihr mit Hollerith-Karten etwas sagte, antwortete sie ebenfalls in dieser Form. Später mit gelben Lochstreifen. Sie stand in der Größe eines Schrankes in einem temperierten Raum, die Computermaschine Zuse Z22. Fünfzehn Jahre später konnte ich mit einem Taschenrechner in der Hand mit vielen Funktionen zwei Zahlen verknüpfen, das Ergebnis speichern und mit ihm weiter rechnen, allerdings nicht programmieren.

Zentralheizung und Waschmaschine
Noch bevor das zweite Kind kam, konnten meine Frau und ich 1964 eine Neubauwohnung mieten, Zentralheizung und das Badezimmer war für mich eine neue Erfahrung. Die Windeln hat meine Frau zwar immer noch im großen Topf auf dem Herd heiß gewaschen, aber ab Mitte der 1960er Jahre wurden Waschmaschinen standardmäßig preisgünstig angeboten und auch wir kauften eine. Es wurden Hochhäuser mit Fahrstuhl gebaut, im Kieler Rathaus blieb der Paternoster. Kühlschrank, Telefon, Fernseher oder Auto gab es zwar schon seit langer Zeit vorher, aber in der Zeit nach dem Deutschen Wirtschaftswunder konnten sich dies mehr und mehr Menschen leisten.

Mozart, Schlager und die Beatles
Meine Frau hat einen Plattenspieler in die Ehe gebracht. Ich hörte Mitte der 1960er Jahre gern ein Klavierkonzert von Mozart oder andere Musik, die mir vom Radio her vertraut war. Die Musik der Beatles habe ich nur am Rande wahrgenommen, erst später spürte ich ihre Bedeutung im Unterschied zu den deutschen Schlagern der Jahre vorher. Zwanzig Jahre später wurde die CD beliebt, es begann die Zeit von digital gespeicherten Tönen. Ich kaufte eine „Stereoanlage“, damit waren die Schallplatten nutzlos geworden.

Demonstrationen
Bald nach unserem Umzug nach Berlin ließ ich mich auf etliche politische Diskussionen über die wirtschaftliche Macht von Unternehmen ein und beteiligte mich ab 1967 an Demonstrationen. Die richteten sich auch gegen den Einfluss der USA in Persien und in Vietnam. Mein positives Bild von den USA reichte bis zum Präsidenten Kennedy, mit dem Vietnamkrieg änderte sich mein Bild ins Gegenteil. Darüber hinaus war mir die Forderung nach mehr Aufklärung über die Nazis wichtig, die in meiner Jugendzeit nach Kriegsende weiterhin hohe Positionen in Justiz, Politik und Wirtschaft eingenommen hatten, damals begründet damit, dass man die Fachleute brauche.

Dias
Im Urlaub 1971 war unsere Familie mit einer befreundeten Familie in Finnland, in zwei Holzhäusern an einem See, in dem wir gleich morgens nach dem Aufstehen schwimmen konnten. Grüne Wälder rings um uns, blauer Himmel über uns. Mit dem Fotoapparat knipste ich Dias. Wieder zu Hause, zeigten wir Verwandten und Bekannten die Dias mit einem Projektor, der die Bilder an eine besondere Wand warf. An so einem Dia-Abend wurde der Schaugenuss durch ein Glas Wein und Salzstangen verstärkt. Mit Einladungen zu Dia-Abenden hörten wir schnell wieder auf, weil wir selbst bei Einladungen von anderen gemerkt haben, wie langweilig so eine Dia-Serie sein kann, wenn man das Gesehene nicht selbst erlebt hat. Die Dia-Begeisterung löste sich allgemein wieder auf, heute hat wohl niemand mehr einen Projektor zu Hause. Um die Bilder dennoch sehen zu können, haben meine Tochter und mein Schwiegersohn mit einem Gerät die Dia-Fotos digitalisiert. Diese digitalen Bilder sind genauso schön, wie ich die Originale in Erinnerung habe, offensichtlich haben die Dias über fünfzig Jahre hin ihre Qualität behalten.

Gorleben und Brokdorf
Als in der Bundesrepublik Deutschland die Atomkraftwerke geplant wurden und bei den ersten der Bau begann, kam es vielerorts zu Kritik und Demonstrationen. In Bremen bildete sich eine große „Bremer Bürgerinitiative gegen Atomanlagen“ BBA mit vielen Stadtteilgruppen. In einer der Stadtteilgruppen der BBA habe ich mitdiskutiert und mitdemonstriert. Im März 1979 fuhren wir in einem der bereitgestellten Busse nach Gorleben, um gegen die Wiederaufbereitungsanlage WAA und das mögliche Atommülllager zu demonstrieren, hinterher wurde von 100 000 Demonstranten geschrieben. Weil bei einer Störung dieses Endlagers tödliche Strahlen austreten könnten, war in dem Konzept selbst vorgesehen, dass diese Stätte bis zum Erlöschen der Strahlen bewacht werden sollte. Das hieß also: mehr als tausend Jahre. Ich stellte mir vor, dass an Christi Grab seit seinem Tod ununterbrochen ein Bewacher hätte stehen müssen – absurd! Im Februar 1981 fuhren wir nach Brokdorf, um gegen den Bau des AKW auf der grünen Wiese zu demonstrieren, auch hier wieder so viele protestierende Menschen wie in Gorleben. In beiden Fällen wurden die Forderungen „WAA weg!“ und „AKW Brokdorf weg!“ nicht erfüllt. War unsere Aktivität also erfolglos, nutzlos? Nein, wie sich später ergab.

Straßenkultur
Unsere BBA-Stadtteilgruppe versuchte an einem Stand mit Plakaten und Flugblättern, vorbeigehende Menschen für unser politisches Anliegen gegen AKW oder Zerstörung von Wohnraum durch Industrieansiedlung zu gewinnen. Eine Frau mit ihrer Geige und ich mit meinem Akkordeon spielten Irisch Folk und sangen politische Lieder. Einige Lieder entnahmen wir der Heftreihe, die mit „Liederbuch“ begonnen hatte und mit „Liederkiste“, „Liederkarren“ usw. fortgesetzt wurde, die allmählich Kultstatus erhielt. Wir beteiligten uns 1980 beim Treffen der „Rotzfrechen Asphaltkultur“ RAK. Bei Demonstrationen lief eine Bläsergruppe „Lauter Blech“ mit. Allgemein mit der politischen Basisbewegung entstand eine neue Straßenkultur mit Musik und Theater.

Pastoren
An den Demonstrationen beteiligten sich auch Pastoren und andere Kirchenleute. Ein Pastor in unserem Stadtteil stellte für die wöchentlichen Treffen unserer BBA-Gruppe am Mittwoch Abend bis zu unserer Auflösung 1982 im Gemeindehaus einen Raum zur Verfügung. Ich habe mir zehn Jahre später eine Bibel gekauft und oft und gern darin gelesen. Nach unserer kirchlichen Trauung war ich kaum mehr im Gottesdienst gewesen, bin aber nie aus der Kirche ausgetreten.

Nutzlose Schätze
Meine Mutter hat in fortgeschrittenem Alter ab 1985 alle Plastiktüten, die sie hin- und wieder bekam, aufgehoben und dann doch nie benutzt. Mein Bruder und ich haben uns darüber lustig gemacht, weil man doch gar nicht so viele Taschen braucht. Heute würde sie für ihren achtsamen Umgang mit Plastik gelobt werden. In meinem fortgeschrittenen Alter befinde ich mich in demselben Dilemma wie sie. Ich habe früher für Renovierungen in der Wohnung oder Reparaturen am Fahrrad Werkzeug, Nägel und Schrauben sowie Ersatzteile gekauft. Seit zwanzig Jahren, also etwa seit dem Jahr 2000 muss ich immer wieder erfahren, dass es viel besseres Werkzeug preiswert zu kaufen gibt, dass die restlichen Ersatzteile nicht mehr passen und deutlich weniger renoviert wird als früher. Also: weg damit – leider!


Jochen Grenzdörffer

Die sechsjährige Grundschulzeit
Einschulung nach den Sommerferien 1944 mitten im Krieg in Bayern. Nach unserer Rückkehr nach Kiel erlebte ich die sechsjährige Grundschulzeit, die genau mit meinem Jahrgang beendet wurde. Für mich allerdings ergab sich so die gute Gelegenheit, den Sprachwechsel von „bayerisch“ nach „hochdeutsch“ nachhaltig zu vollziehen. Zudem bot mir das tägliche Leben in der Trümmerlandschaft viel Anreiz, das geduldige Lernen für die Schule nicht zu ernsthaft zu betreiben.

Der Waschkeller
Wir wohnten in Kiel ab 1946 in einer Mietwohnung in einem vierstöckigen Haus mit einer Parterre-Wohnung und je zwei Wohnungen in jeder Etage. Nach Absprache hatte jede Wohnung in jeder Woche je einen Waschtag in der Waschküche, die nur vom Hof aus zugänglich war. Dort stand der mit Holz oder Kohle heizbare Waschkessel. Mit großen hölzernen Schaufelstäben wurde die heiße Wäsche umgerührt. Etliche Hausfrauen halfen sich gegenseitig an ihrem Waschtag. Zum Trocknen wurde die Wäsche im Hof aufgehängt, an Regentagen auf dem Wäscheboden unterm Dach.

Jungenschule, Mädchenschule
Ich kam 1951 in eine reine Jungenschule, das Hebbel-Gymnasium. In die Quarta. Es folgten die Klassen Tertia, Untersekunda usw. bis Oberprima. Gezählt wurde also abwärts 4, 3, 2, 1. Ungewöhnlich war der Zeitplan des Unterrichts: Wegen der hohen Bombenschäden war unser Unterricht nur gastweise in dem Mädchen-Gymnasium, der Ricarda-Huch-Schule möglich. Das bedeutete: Im Wechsel eine volle Woche nur Vormittags-Unterricht, dann die nächste Woche nur Nachmittags-Unterricht. Gerade dieser Nachmittags-Unterricht bereitete uns viele Schwierigkeiten. Hausaufgaben abends nach dem Schulschluss: Nein, danke! Morgens mal lange ausschlafen: Unmöglich. Dann mittags mit vollem Bauch direkt nach dem Mittagessen zur Schule. Nicht einfach! Dieser Zustand dauerte fünf Jahre bis zum Neubau der Hebbelschule, dann noch zwei „normale“ Jahre.

Waschen
Wir Kinder wuchsen in den 1950er Jahren mit den Wasserschüsseln zum morgendlichen und abendlichen Waschen im Schlafraum auf. Eine große Kanne kalten Wassers genügte für eine Person. Jeder hatte sein eigenes Seifenstück und ein eigenes Handtuch. Abends musste ich mich zu Hause immer ganz waschen, vor allem weil ich viele Jahre in Bayern und nun auch in Kiel das Barfußlaufen gepflegt habe. Die Füße mussten dann besonders gereinigt werden. Da dachte ich mir einen Trick aus: Ich säuberte nur einen der beiden Füße, den ich dann guten Gewissens aus dem Bett vorzeigen konnte, während ich den schmutzigen anderen unter der Decke versteckt hielt. Dieser Trick flog aber bald auf, der Trick hielt leider nur wenige Tage. Erst nach meiner Schulzeit wurde in eine kleine Kammer eine Dusche eingebaut.

Der Fisch-Verkäufer
In Kiel durfte in den 1950er Jahren keine Woche ohne Fisch-Essen ablaufen. Der Fischhändler hatte dazu ein besonderes Angebot: Statt des Laden-Verkaufs gab es freien Verkauf „auf der Straße“: Der Fischhändler fuhr mit einem großen Schubkarren und schrie zur Werbung: „Friiische Dooorsch“. Schon sausten alle Hausfrauen auf die Straße, um sich einzudecken. Ich selbst erwarb allmählich eine Abneigung zum frischen Fisch, und zwar wegen der Gräten. Der Fischhändler zerteilte nämlich das Fischfleich und die Gräten sehr zielstrebig und rasch mit einem kleinen Hackebeilchen, so dass immer wieder viele kleine Grätenstücke absplitterten. – Kein Vergleich mit dem heutigen Tiefkühl-Angebot.

Lebensmittel-Einkauf aus Schubläden in Papiertüten
Unsere Lebensmittel kauften wir bis Mitte der 1950er Jahre in dem Laden des Lebensmittelhändlers Thoms. In der unmittelbaren Nachkriegszeit noch mit Lebensmittelkarten, mit denen allen Menschen bestimmte Rationen zugeteilt wurden. Zwischen Verkäufern und uns Käufern befand sich ein Tresen, darauf eine Waage mit Gewichten und eine Klingelkasse. Hinter den Verkäufern stand an der Wand ein riesiges Regal mit Läden, Schüsseln, Säckchen, Töpfen, dickbauchigen Flaschen. Alle Waren mussten in der gewünschten Menge gewogen und abgepackt werden. Zucker und Mehl hatte der Händler in großen Schubladen, aus denen er mit einer kleinen Schaufel die richtige Menge abwog und in eine Tüte packte. Ich hasste die lange Warterei beim Einkauf. Milch, Butter Käse gab es beim Milchhändler, die Milch wurde in eine mitgebrachte Zweiliterkanne gegossen. Obst und Gemüse gab es auf dem Wochenmarkt, jeden Mittwoch und Samstag. Jedes Mal musste eines von uns Kindern mitgehen zum Schleppen der vollen Tragetasche. Für Kartoffeln war ich zuständig: Jeweils einige Zentner im ausgeliehenen Schubkarren.

Die Speisekammer
Erst heute im Rückblick erkenne ich die Mängel, die durch einen fehlenden Kühlschrank entstehen. In meiner Jugendzeit war es bis 1960 noch völlig normal, dass man im Winter und Frühjahr nicht so viel verschiedenes Gemüse essen konnte wie heute jederzeit. Mehrere Zentner Kartoffeln waren im kühlen Keller in Holzkisten gelagert. Die anderen Lebensmittel kamen nach dem Einkauf in die Speisekammer, im Sommer gekühlt durch einen originalen Wasser-Eisblock. Gemüse und Obst mussten aufwändig in Einweckgläsern eingekocht werden. (Die Bezeichnung Einwecken bzw. Weckgläser leitet sich von dem Firmennamen Weck ab.) Immer wieder wurde an den Deckeln probiert, ob sie noch geschlossen waren.

Mangel an Mathematikern
Mitten im Studium ca. 1963 wurde erkennbar, wie sehr wir Mathematiklehrer gebraucht und geschätzt wurden. Mit einem Förderprogramm unterstützte die VW-Stiftung alle Mathematik-Lehramts-Studenten. Auch wir, die schon vor Beginn dieser Aktion das Studium begonnen hatten, bekamen einen – wenn auch geringen – Förder-Betrag.

Koedukation
Der nach Jungen und Mädchen getrennte Unterricht wurde nach und nach zugunsten einer Koedukation aufgehoben. Ab 1967 waren die Klassen in praktisch allen Schulen mit Jungen und Mädchen gemischt. Ein paar Jahre noch wurde an einer fast lächerlichen Variante festgehalten: Im Namensverzeichnis des Klassenbuches wurden als erstes die Jungen notiert, dann die Mädchen. Im Lehrerkollegium spielt heute das Geschlecht Mann/Frau keine Rolle. In meiner Schulzeit hatten wir im Gymnasium lauter männliche Lehrer.

Klassengröße
Zu Beginn meiner Lehrtätigkeit 1969 hatten wir die Richtzahl 40 Schüler pro Klasse. Bei 8 Klassenarbeiten ein ganz schöner Arbeitsaufwand. Nur ein großer Unterschied gegen heute: Die große Klasse bereitete fast keine disziplinären Schwierigkeiten.

Universalgelehrte vs. studierte Angestellte
Die Einführung der Kollegstufe (= Reformierte Oberstufe der letzten zwei Klassen) im Jahr 1972 brachte die Wahlmöglichkeit für Schüler und damit die gezielte Ausbildung in den Fächern, die diese Schüler ansprechen. Weg von Universalgelehrten, hin zum Spezialisten für die Arbeitswelt. Für mein Fach Physik hat das gravierende Folgen. Viele wählen Physik ab, dafür ein anderes naturwissenschaftliches Fach. Als Nebeneffekt hat sich ergeben, dass nun in der Mittelstufe das physikalische Praktikum die eigene Auseinandersetzung mit dem Physik-Versuch fördert.

Ungewisse Verabredungen zu Treffen an unbekanntem Ort
a)  In den frühen 1980er Jahren fuhren wir häufig mit unseren Kajak-Freunden und ihren Familien gemeinsam in den Sommerferien zum Zelten ans Meer. In einem Jahr hatten wir Süditalien ausgesucht. Das Problem dabei war aber, dass wir im Voraus für einige Tage in Verona die Mutter von Doris besuchen wollten. Deshalb verabredeten wir mit den anderen Familien: Treffen in einer bestimmten Kleinstadt nahe Bari am Montag um 17 Uhr auf dem Marktplatz. Das hat genau geklappt, und wir suchten dann gemeinsam den Zeltplatz am Meer und genossen das gemeinsame Standleben umso mehr.
b)  Im Jahr 1991 flog ich als Begleiter einer Klasse zur Fahrt nach Duluth in die USA. Das nahm ich als Gelegenheit, unseren Sohn Görres bei seinem Studienaufenthalt in Baton Rouge zu besuchen. Dazu musste ich einen Flug nahe der kanadischen Grenze bis nach New Orleans an der Südküste nehmen. Obwohl alle Termine vorher eindeutig vereinbart waren, wurde ich am Flughafen von New Orleans etwas unruhig, weil Görres nicht am Gitter stand. Als er kam, löste sich die Beklemmung und wir konnten fünf schöne gemeinsame Ferientage verleben.
Genau dieselbe Unruhe musste Görres drei Monate später aushalten, als zwei seiner Klassenkameraden mit ihm die große USA-Rundreise antraten: Abholen am Flughafen ohne direkten Funkkontakt über Handy.